Spoiler: Dieser Darß-Urlaubsbericht wird knapper als viele der früheren. Was daran liegt, dass der Urlaub für mich irgendwie mit einem Fluch beladen war. Ich würde ihn gern nochmal von vorn beginnen, aber die Chance kommt wahrscheinlich erst wieder 2024.
Bereits am Freitag vor Reiseantritt beiße ich mir beim Frühstück zwei Mal derart herzhaft auf die Zunge, dass festes Essen und mündliche Kommunikation für die nächsten drei Tage nur funktionieren, solange ich mir einrede, dass es gar nicht mehr weh tut – was mir im Maximum für zwei bis drei Minuten gelingt.
In entsprechender Laune, aber immer noch voller Vorfreude, starten wir in den Norden.
Samstag, 4. März:
Anreise
Der Motor brummt um 10 nach 10 auf, und los geht’s. Sprit sparend fahrend und dem Sprühmatsch auf der Autobahn Rechnung tragend, kommen wir gegen 14.30 Uhr auf dem Hof unserer Gastfamilie an.
Dieses Jahr bietet eine Première: Da unser Standardquartier, die Ferienwohnung Anna, welche wir seit 2009 bewohnten, im Winter aus Energiegründen nicht mehr vermietet wird und andere Ferienwohnungen gerade in der Sanierungsphase sind, dürfen wir ab diesem Jahr ins Haus Emely. Das hat im Erdgeschoss nicht wesentlich mehr Wohnfläche als die Ferienwohnungen, aber unterm Dach immerhin noch ein Gästebett und eine Gästetoilette, beide wegen der Dachschrägen hervorragend für Personen unter 1,60 Meter geeignet. Dazu später mehr.
Wir versuchen, alle unsere Sachen sinnvoll in den ungewohnten Räumen zu verstauen, vertilgen anschließend den traditionellen Rührkuchen und brechen dann zum Hohen Ufer auf.
Und das ist einmal mehr wieder viel schmaler geworden. Außerdem steht die Suppe, obwohl es gar nicht sehr windig ist, so hoch in der Ostsee, dass sie immer noch direkt an der Steilküste herumnagt. Der alte DDR-Bunker hängt natürlich auch weiter über, und in drei bis vier Jahren dürfte es sich mit diesem Aussichtspunkt endgültig erledigt haben.
Weiter geht es am Steinstrand nach Wustrow. Von dort nehmen wir erst den gewohnten Weg zurück auf der Steilküste, aber Frau R. bricht plötzlich wieselwild nach rechts aus und will neue Wege gehen durch eine Ferienhaussiedlung, in der Fuchs und Hase offenbar Berliner E‑Autos fahren.
Nach dem Traditionsnudelabendbrot stellen wir fest, dass sich die Lesecouchsituation für Frau R. im Vergleich zu der in der Anna nicht geändert hat. Mein neuer Lesesessel hingegen ist sogar bequemer und rückenfreundlicher. Couch und Sessel werden ausgiebig genutzt, dann wird geratzt.
Sonntag, 5. März:
Weststrand
Die Wettervorhersage lässt uns zum Schluss kommen, dass wir den Sonntag und Montag für längere Touren nutzen sollten. Die zweite Wochenhälfte ist noch etwas unklar, und was man weg hat, hat man weg.
Wir rollen zum Parkplatz Drei Eichen, laufen von dort in den Wald, bestaunen die im letzten Jahr mit EU-Hilfen überarbeiteten Fußwege und landen ohne Verzögerungen kurz darauf endlich an der Wasserkante. Wir stapfen gen Norden und bemerken auch hier, dass der Strand dieses Jahr wesentlich schmaler ist als gewohnt. Je weiter wird uns von Ahrenshoop entfernen, umso deutlicher wird das.
Ein paar Hundert Meter vorm Müllergraben verliebe ich mich ein ein Stück Strandholz. Nasses Strandholz. Ungefähr zehn Kilo schwer. Oha. Gut, ich trage es erst einmal ein Weile in der rechten Hand. Dann in der linken. Dann immer öfter wechselnd. Kurz nach dem Müllergraben, der dankenswerterweise dieses Jahr im Strandbereich komplett zugeschüttet ist, weshalb ich mir dort keine nassen Füße holen kann, werfe ich mir das Holz auf die Schulter und beschließe, die Sache durchzuziehen. Das Thema Fotografieren hat sich damit ebenfalls erledigt, und mit gütiger Einsicht und Erlaubnis meiner Frau kürzen wir die heutige Tour etwas ab.
Abenteuerlich ist sie trotzdem, da ich mit dem Trumm auf der Schulter unter anderem über andere umgefallene Bäume klettern muss. Außerdem ist der Weststrand stellenweise so unterschwemmt, dass es sich wie auf einem Pudding läuft. Für eine Person mit dem Gewicht und der Grazie einer Gazelle, also für Frau R., kein Problem. Aber ich wiege im Normalfall schon fast das Doppelte und habe heute noch die Extrakilos auf dem Buckel.
Elegant geht anders, aber wir schaffen es am Ende doch zum rettenden Aufgang in Richtung Buchenwaldweg, über diesen zum Hauptweg und darauf zum Großen Kreuz. Dort fragt mich ein sehr großer Mensch, der mich bereits am Strand beim Schleppen gesehen hatte, ob ich ihm das „schöne Stück Holz“ für zehn Euro verkaufe. Nein. Nicht für Hundert, auch nicht für noch mehr. Dafür habe ich zu sehr gekämpft. Such dir dein eigenes Stöckchen, Witzbold!
Am Auto angekommen, habe ich mein Stück Weststrand ziemlich genau zehn Kilometer weit getragen. In froher Erwartung des morgigen Kommentars meiner Bandscheibe dazu, rollen wir glücklich gen Häuschen.
Montag, 6. März:
Rundgang am Bodden und in Ahrenshoop
Nach dem Augenöffnen rechne ich mit einem „Bist du eigentlich komplett bescheuert?“ aus dem Bereich meiner Lendenwirbel, aber erstaunlicherweise ist ein anständiger Muskelkater in den Beinen das Einzige, was sich merkbar meldet. Wunderbar, nichts Neues, damit kann ich leben, das gehört nach einem Dreivierteljahr im Bürostuhl zum Normalprogramm nach so einem „Spaziergang“ am Weststrand.
Das Wetter heute ist nicht schlecht, es gibt Sonne, es wird etwas windig, aber wir sind ja vorbereitet. Wir latschen vom Haus in Richtung Hafen, von dort am Bodden entlang, kurz vorm Ahrenshooper Holz in Richtung Schifferkirche. Da im Winter montags in Ahrenshoop wirklich nichts los ist, bestellen wir nur flink den Tisch für Freitagabend im Strandläufer und spicken dann direkt in den Sandstrand. Weiter geht es am Haus in den Dünen vorbei, die Stahltreppe an der Betonbuhne hoch und oben auf dem Steilufer wieder zur Pappelallee und damit nach Hause.
Abends merke ich, dass mein Kopf zeitweise leicht glüht. Es folgen eine unruhige Nacht und die Erkenntnis: Hurra, ich habe eine Erkältung. Schleppen, Schwitzen und Wind am Sonntag waren wohl keine gute Kombination.
Dienstag, 7. März:
Mist! (Oder: Viel Zeit zum Lesen)
Jup, Auszeit. Draußen weht, stürmt, orkant es mit 60 bis 95 km/h, und das Letzte, was ich heute tun werde, ist, vors Haus zu gehen, durch die Landschaft zu rennen, dabei wieder zu schwitzen und alles noch schlimmer zu machen. Ich packe mich in den bequemen Lesesessel, während Frau R. sich für einen Soloausflug vorbereitet, auch um am Ende noch ein paar Grippedrogen einzusammeln.
Während es im Häuschen immer wieder heimelig dröhnt, wenn der danebenstehende Baum gegen die Dachrinne schlägt, während Hofkatze Flitzi beim Patrouillendienst missmutig von Ecke zu Ecke huscht, während die Meisen direkt nach dem Start aus dem Futterhäuschen wie ein wild gedroschener Federball aus dem Sichtfeld verschwinden, sitze ich über meiner Literatur und staune halbstündlich immer mehr über das Durchhaltevermögen meiner Frau. Die hat sich allen Ernstes am Boddenufer nach Wustrow durchgehangelt, dort die Apotheke besucht und sich auf dem Rückweg am Strand des Gesicht sandstrahlen lassen.
Es folgt die zweite unruhige Nacht, an deren Ende ich freiwillig ins Zwergengeschoss nach oben umziehe.
Mittwoch, 8. März:
Nuja, irgendwie muss es ja, nicht wahr …
Ich habe nicht wirklich geschlafen, brauche aber auch mal wieder Frischluft. Der Sturm hat sich gelegt. Also planen wir einen kleinen Spaziergang nach Ahrenshoop, dort ein Runde um die Gegend des Dornenhauses, eventuell Kuchen in der Mühle – mal sehen.
Zuerst aber Brötchen und ein paar Lebensmittel kaufen für die kommenden Tage! Ab nach Wustrow – hä, wieso ist der Lidl-Parkplatz leer? Wieso ist der Bäcker zu? Wieso ist auch der Lidl zu? Was soll das?
Ein zweites Auto rollt auf den Parkplatz, Gott sei Dank Einheimische. Ich frage, ob es in der Gegend einen Stromausfall gibt oder warum alles geschlossen ist. Antwort: Frauentag. Seit diesem Tag ein offizieller Feiertag in Meckpomm. Der nächste offene Bäcker? Hm, vielleicht in Barth. Das sind knappe 40 Kilometer – in eine Richtung und ohne Garantie.
Der Marketingmensch in mir flippt aus und überlegt im Fieberwahn, was er alles gemacht hätte, zum Beispiel nette Thekenschildchen á la
„Liebe Männer, denkt daran,
dass Frau am Mittwoch ausschlafen kann!
Kauft also schon am Dienstag ein,
sonst wird der Mittwoch echt übel für euch, weil ihr dann nämlich nicht nur ohne Brötchen, sondern auch ohne Blumen, Konfekt und so weiter da steht!
(Es sei denn, ihr fahrt noch schnell zur Tanke, von denen es aber hier oben verdammt wenig gibt.)“
Aber nein, der Nordmensch kommuniziert auch schriftlich so sparsam, wie man das von ihm kennt. Und er korrigiert für einen lumpigen Feiertag doch keine Öffnungszeitenangaben bei Google …
Damit hat sich für heute das Einkaufen in der Bunten Stube ebenfalls erledigt. Wir latschen ein bisschen am Steinstrand unter der Steilküste herum und durchs alte Ahrenshoop. Weil uns ein aufkommendes Grauwetter dann aber nach Hause treibt, gibt es Kuchen nicht in der Mühle, sondern aus dem CaféStübchen direkt bei uns um die Ecke.
Weitere Überraschung des Tages: Bei Frau R.’s Wanderschuhen reißt die Sohle ab. Wir organisieren bei unseren Vermietern ein Pfund Alleskleber, und ich drücke meiner Frau die Daumen. Die Schuhe müssen noch die morgige Tour zum Darßer Ort überstehen, dann dürfen sie in die Tonne.
Donnerstag, 9. März:
Ne, immer noch nicht wirklich
Die erste komplette Nacht in der Zwergenetage … Rücksichtsvoll ziehe ich frewillig nach oben, denn mein Kopf neigt unter Fieber dazu, komplizierte, unlösbare Rätsel lösen zu wollen bzw. daran immer und immer wieder zu scheitern. Das versetzt mich in eine mehr oder weniger dauerhafte Halbschlaf-Körperrotation, die im Zusammenspiel mit der schrägen, niedrigen Decke zu einigen Kopf-Wand-Kontakten führt, welche die Situation auch nicht besser machen.
Irgendwann kurz vor 8 Uhr beschließe ich gerädert, das Elend zu beenden und wenigstens eine gute Tat zu tun, indem ich meine Frau schlafen lasse, derweil Brötchen und Kram einkaufe und damit das geliebte Weib überrasche – welches nach meiner Rückkehr bereits auf dem Sofa sitzt und „Da kann ich ja lange rufen!“ schnauzt. Natürlich im Spaß.
Weniger spaßig: Auch den Prerow-Ausflug lasse ich ich dieses Jahr für mich ausfallen. Ich habe schon die Heimreise im Kopf und will nicht riskieren, dass ich am Wochenende endgültig ausfalle.
Für mich werden es also wieder viele Buchseiten, für Frau R. viele Kilometer, leider allein. Immerhin halten die Schuhe tatsächlich durch.
Freitag, 10. März:
Nochmal Ahrenshoop
Ich dope mich nach dem Frühstück ausgehreif, denn zumindest einen Urlaubsprogrammpunkt möchte ich nicht verpassen: das Abendessen im Strandläufer. Dankenswerterweise kann ich mittlerweile wieder vernünftig kauen, die Geschmacksnerven sind wider Erwarten auch noch gut dabei, und das bisschen Geschniefe und Geröchel bekomme ich mit chemischer Unterstützung bestimmt in den Griff.
Wir kaufen flink im Hofladen neben der Robbe – einem Laden, der so tief unter dem Radar fliegt, dass man ihn z. B. auf Google Maps nicht findet, – Sanddornprodukte ein, stöbern in der aktuellen Maritimkollektion der Goldschmiede Kupfer, die seit diesem Jahr gar nicht mehr die Goldschmiede Kupfer ist, sammeln die Bäckereiprodukte fürs Wochenende zusammen, machen nochmal einen kurzen Spaziergang am Hohen Ufer nach Wustrow und sind später am Abend dann wieder einmal kulinarisch begeistert, während es an den Tischen um uns herum hustet, niest, röchelt und krächtzt – mir geht es dank Nasenspray und Tropfen und Pastillen bestens, zumindest für ein paar Stunden.
Samstag, 11. März:
Abreise
Die letzte Nacht unterm Dach, immerhin bekomme ich ein paar Stunden Schlaf. Mein Kopf hat die engen Grenzen des Raumes langsam verinnerlicht.
Sich gut fühlen geht immer noch ganz anders, aber ich bin reisetauglich, belade pünktlich das Auto, und kurz vor 10 Uhr fliegen wir heim.
Ankunft ist vor 14.30 Uhr, das Ausladen ist ein bisschen anstrengend. 16 Uhr stehe ich vor der neuen Tierpension und darf die Schmidts abholen, welche sich beim ersten Aufenthalt gut benommen haben und deshalb auch im Sommer wieder einen Platz dort finden werden.
Fazit
Das Stück Holz vom Weststrand rettet diesen Urlaub irgendwie, obwohl es ihn vielleicht auch demoliert hat. Vielleicht war ich vorher schon angeschlagen, vielleicht nicht. Ich hätte diesen Urlaub dringender gebraucht als in anderen Jahren, ich wollte endlich mal eine Woche am Stück ausschlafen … Aber manchmal ist das Leben eben eine Schachtel Pralinen, aus der nach dem Öffnen die Maden rauskriechen.
Ich danke meiner Frau für ihre unendliche Geduld. Nächstes Jahr sammle ich wieder Schnappschüsse. Kein Holz. Keine Riesensteine. Nichts, was nicht in die Jackentasche passt.