Darß 2023

Spoi­ler: Die­ser Darß-Urlaubs­be­richt wird knap­per als viele der frü­he­ren. Was daran liegt, dass der Urlaub für mich irgend­wie mit einem Fluch bela­den war. Ich würde ihn gern noch­mal von vorn begin­nen, aber die Chance kommt wahr­schein­lich erst wie­der 2024.

Bereits am Frei­tag vor Rei­se­an­tritt beiße ich mir beim Früh­stück zwei Mal der­art herz­haft auf die Zunge, dass fes­tes Essen und münd­li­che Kom­mu­ni­ka­tion für die nächs­ten drei Tage nur funk­tio­nie­ren, solange ich mir ein­rede, dass es gar nicht mehr weh tut – was mir im Maxi­mum für zwei bis drei Minu­ten gelingt.

In ent­spre­chen­der Laune, aber immer noch vol­ler Vor­freude, star­ten wir in den Norden.

Samstag, 4. März:
Anreise

Der Motor brummt um 10 nach 10 auf, und los geht’s. Sprit spa­rend fah­rend und dem Sprüh­matsch auf der Auto­bahn Rech­nung tra­gend, kom­men wir gegen 14.30 Uhr auf dem Hof unse­rer Gast­fa­mi­lie an.

Die­ses Jahr bie­tet eine Pre­mière: Da unser Stan­dard­quar­tier, die Feri­en­woh­nung Anna, wel­che wir seit 2009 bewohn­ten, im Win­ter aus Ener­gie­grün­den nicht mehr ver­mie­tet wird und andere Feri­en­woh­nun­gen gerade in der Sanie­rungs­phase sind, dür­fen wir ab die­sem Jahr ins Haus Emely. Das hat im Erd­ge­schoss nicht wesent­lich mehr Wohn­flä­che als die Feri­en­woh­nun­gen, aber unterm Dach immer­hin noch ein Gäs­te­bett und eine Gäs­te­toi­lette, beide wegen der Dach­schrä­gen her­vor­ra­gend für Per­so­nen unter 1,60 Meter geeig­net. Dazu spä­ter mehr.

Wir ver­su­chen, alle unsere Sachen sinn­voll in den unge­wohn­ten Räu­men zu ver­stauen, ver­til­gen anschlie­ßend den tra­di­tio­nel­len Rühr­ku­chen und bre­chen dann zum Hohen Ufer auf.

Und das ist ein­mal mehr wie­der viel schma­ler gewor­den. Außer­dem steht die Suppe, obwohl es gar nicht sehr win­dig ist, so hoch in der Ost­see, dass sie immer noch direkt an der Steil­küste her­um­nagt. Der alte DDR-Bun­ker hängt natür­lich auch wei­ter über, und in drei bis vier Jah­ren dürfte es sich mit die­sem Aus­sichts­punkt end­gül­tig erle­digt haben.

Wei­ter geht es am Stein­strand nach Wus­trow. Von dort neh­men wir erst den gewohn­ten Weg zurück auf der Steil­küste, aber Frau R. bricht plötz­lich wie­sel­wild nach rechts aus und will neue Wege gehen durch eine Feri­en­haus­sied­lung, in der Fuchs und Hase offen­bar Ber­li­ner E‑Autos fahren.

Nach dem Tra­di­ti­ons­nu­del­abend­brot stel­len wir fest, dass sich die Lese­couch­si­tua­tion für Frau R. im Ver­gleich zu der in der Anna nicht geän­dert hat. Mein neuer Lese­ses­sel hin­ge­gen ist sogar beque­mer und rücken­freund­li­cher. Couch und Ses­sel wer­den aus­gie­big genutzt, dann wird geratzt.

Sonntag, 5. März:
Weststrand

Die Wet­ter­vor­her­sage lässt uns zum Schluss kom­men, dass wir den Sonn­tag und Mon­tag für län­gere Tou­ren nut­zen soll­ten. Die zweite Wochen­hälfte ist noch etwas unklar, und was man weg hat, hat man weg.

Wir rol­len zum Park­platz Drei Eichen, lau­fen von dort in den Wald, bestau­nen die im letz­ten Jahr mit EU-Hil­fen über­ar­bei­tetn Fuß­wege und lan­den ohne Ver­zö­ge­run­gen kurz dar­auf end­lich an der Was­ser­kante. Wir stap­fen gen Nor­den und bemer­ken auch hier, dass der Strand die­ses Jahr wesent­lich schma­ler ist als gewohnt. Je wei­ter wird uns von Ahren­shoop ent­fer­nen, umso deut­li­cher wird das.

Ein paar Hun­dert Meter vorm Mül­ler­gra­ben ver­liebe ich mich ein ein Stück Strand­holz. Nas­ses Strand­holz. Unge­fähr zehn Kilo schwer. Oha. Gut, ich trage es erst ein­mal ein Weile in der rech­ten Hand. Dann in der lin­ken. Dann immer öfter wech­selnd. Kurz nach dem Mül­ler­gra­ben, der dan­kens­wer­ter­weise die­ses Jahr im Strand­be­reich kom­plett zuge­schüt­tet ist, wes­halb ich mir dort keine nas­sen Füße holen kann, werfe ich mir das Holz auf die Schul­ter und beschließe, die Sache durch­zu­zie­hen. Das Thema Foto­gra­fie­ren hat sich damit eben­falls erle­digt, und mit güti­ger Ein­sicht und Erlaub­nis mei­ner Frau kür­zen wir die heu­tige Tour etwas ab.

Aben­teu­er­lich ist sie trotz­dem, da ich mit dem Trumm auf der Schul­ter unter ande­rem über andere umge­fal­lene Bäume klet­tern muss. Außer­dem ist der West­strand stel­len­weise so unter­schwemmt, dass es sich wie auf einem Pud­ding läuft. Für eine Per­son mit dem Gewicht und der Gra­zie einer Gazelle, also für Frau R., kein Pro­blem. Aber ich wiege im Nor­mal­fall schon fast das Dop­pelte und habe heute noch die Extra­ki­los auf dem Buckel.

Ele­gant geht anders, aber wir schaf­fen es am Ende doch zum ret­ten­den Auf­gang in Rich­tung Buchen­wald­weg, über die­sen zum Haupt­weg und dar­auf zum Gro­ßen Kreuz. Dort fragt mich ein sehr gro­ßer Mensch, der mich bereits am Strand beim Schlep­pen gese­hen hatte, ob ich ihm das „schöne Stück Holz“ für zehn Euro ver­kaufe. Nein. Nicht für Hun­dert, auch nicht für noch mehr. Dafür habe ich zu sehr gekämpft. Such dir dein eige­nes Stöck­chen, Witzbold!

Am Auto ange­kom­men, habe ich mein Stück West­strand ziem­lich genau zehn Kilo­me­ter weit getra­gen. In fro­her Erwar­tung des mor­gi­gen Kom­men­tars mei­ner Band­scheibe dazu, rol­len wir glück­lich gen Häuschen.

Montag, 6. März:
Rundgang am Bodden und in Ahrenshoop

Nach dem Augen­öff­nen rechne ich mit einem „Bist du eigent­lich kom­plett bescheu­ert?“ aus dem Bereich mei­ner Len­den­wir­bel, aber erstaun­li­cher­weise ist ein anstän­di­ger Mus­kel­ka­ter in den Bei­nen das Ein­zige, was sich merk­bar mel­det. Wun­der­bar, nichts Neues, damit kann ich leben, das gehört nach einem Drei­vier­tel­jahr im Büro­stuhl zum Nor­mal­pro­gramm nach so einem „Spa­zier­gang“ am Weststrand.

Das Wet­ter heute ist nicht schlecht, es gibt Sonne, es wird etwas win­dig, aber wir sind ja vor­be­rei­tet. Wir lat­schen vom Haus in Rich­tung Hafen, von dort am Bod­den ent­lang, kurz vorm Ahren­sho­o­per Holz in Rich­tung Schif­fer­kir­che. Da im Win­ter mon­tags in Ahren­shoop wirk­lich nichts los ist, bestel­len wir nur flink den Tisch für Frei­tag­abend im Strand­läu­fer und spi­cken dann direkt in den Sand­strand. Wei­ter geht es am Haus in den Dünen vor­bei, die Stahl­treppe an der Beton­buhne hoch und oben auf dem Steil­ufer wie­der zur Pap­pel­al­lee und damit nach Hause.

Abends merke ich, dass mein Kopf zeit­weise leicht glüht. Es fol­gen eine unru­hige Nacht und die Erkennt­nis: Hurra, ich habe eine Erkäl­tung. Schlep­pen, Schwit­zen und Wind am Sonn­tag waren wohl keine gute Kombination.

Dienstag, 7. März:
Mist! (Oder: Viel Zeit zum Lesen)

Jup, Aus­zeit. Drau­ßen weht, stürmt, orkant es mit 60 bis 95 km/​h, und das Letzte, was ich heute tun werde, ist, vors Haus zu gehen, durch die Land­schaft zu ren­nen, dabei wie­der zu schwit­zen und alles noch schlim­mer zu machen. Ich packe mich in den beque­men Lese­ses­sel, wäh­rend Frau R. sich für einen Solo­aus­flug vor­be­rei­tet, auch um am Ende noch ein paar Grip­pe­dro­gen einzusammeln.

Wäh­rend es im Häus­chen immer wie­der hei­me­lig dröhnt, wenn der dane­ben­ste­hende Baum gegen die Dach­rinne schlägt, wäh­rend Hof­katze Flitzi beim Patrouil­len­dienst miss­mu­tig von Ecke zu Ecke huscht, wäh­rend die Mei­sen direkt nach dem Start aus dem Fut­ter­häus­chen wie ein wild gedro­sche­ner Feder­ball aus dem Sicht­feld ver­schwin­den, sitze ich über mei­ner Lite­ra­tur und staune halb­stünd­lich immer mehr über das Durch­hal­te­ver­mö­gen mei­ner Frau. Die hat sich allen Erns­tes am Bod­den­ufer nach Wus­trow durch­ge­han­gelt, dort die Apo­theke besucht und sich auf dem Rück­weg am Strand des Gesicht sand­strah­len lassen.

Es folgt die zweite unru­hige Nacht, an deren Ende ich frei­wil­lig ins Zwer­gen­ge­schoss nach oben umziehe.

Mittwoch, 8. März:
Nuja, irgendwie muss es ja, nicht wahr …

Ich habe nicht wirk­lich geschla­fen, brau­che aber auch mal wie­der Frisch­luft. Der Sturm hat sich gelegt. Also pla­nen wir einen klei­nen Spa­zier­gang nach Ahren­shoop, dort ein Runde um die Gegend des Dor­nen­hau­ses, even­tu­ell Kuchen in der Mühle – mal sehen.

Zuerst aber Bröt­chen und ein paar Lebens­mit­tel kau­fen für die kom­men­den Tage! Ab nach Wus­trow – hä, wieso ist der Lidl-Park­platz leer? Wieso ist der Bäcker zu? Wieso ist auch der Lidl zu? Was soll das?

Ein zwei­tes Auto rollt auf den Park­platz, Gott sei Dank Ein­hei­mi­sche. Ich frage, ob es in der Gegend einen Strom­aus­fall gibt oder warum alles geschlos­sen ist. Ant­wort: Frau­en­tag. Seit die­sem Tag ein offi­zi­el­ler Fei­er­tag in Meck­pomm. Der nächste offene Bäcker? Hm, viel­leicht in Barth. Das sind knappe 40 Kilo­me­ter – in eine Rich­tung und ohne Garantie.

Der Mar­ke­ting­mensch in mir flippt aus und über­legt im Fie­ber­wahn, was er alles gemacht hätte, zum Bei­spiel nette The­ken­schild­chen á la

Liebe Män­ner, denkt daran,
dass Frau am Mitt­woch aus­schla­fen kann!
Kauft also schon am Diens­tag ein,
sonst wird der Mitt­woch echt übel für euch, weil ihr dann näm­lich nicht nur ohne Bröt­chen, son­dern auch ohne Blu­men, Kon­fekt und so wei­ter da steht!
(Es sei denn, ihr fahrt noch schnell zur Tanke, von denen es aber hier oben ver­dammt wenig gibt.)“

Aber nein, der Nord­mensch kom­mu­ni­ziert auch schrift­lich so spar­sam, wie man das von ihm kennt. Und er kor­ri­giert für einen lum­pi­gen Fei­er­tag doch keine Öff­nungs­zei­ten­an­ga­ben bei Google …

Damit hat sich für heute das Ein­kau­fen in der Bun­ten Stube eben­falls erle­digt. Wir lat­schen ein biss­chen am Stein­strand unter der Steil­küste herum und durchs alte Ahren­shoop. Weil uns ein auf­kom­men­des Grau­wet­ter dann aber nach Hause treibt, gibt es Kuchen nicht in der Mühle, son­dern aus dem Café­Stüb­chen direkt bei uns um die Ecke.

Wei­tere Über­ra­schung des Tages: Bei Frau R.’s Wan­der­schu­hen reißt die Sohle ab. Wir orga­ni­sie­ren bei unse­ren Ver­mie­tern ein Pfund Alles­kle­ber, und ich drü­cke mei­ner Frau die Dau­men. Die Schuhe müs­sen noch die mor­gige Tour zum Dar­ßer Ort über­ste­hen, dann dür­fen sie in die Tonne.

Donnerstag, 9. März:
Ne, immer noch nicht wirklich

Die erste kom­plette Nacht in der Zwer­ge­netage … Rück­sichts­voll ziehe ich frewil­lig nach oben, denn mein Kopf neigt unter Fie­ber dazu, kom­pli­zierte, unlös­bare Rät­sel lösen zu wol­len bzw. daran immer und immer wie­der zu schei­tern. Das ver­setzt mich in eine mehr oder weni­ger dau­er­hafte Halb­schlaf-Kör­per­ro­ta­tion, die im Zusam­men­spiel mit der schrä­gen, nied­ri­gen Decke zu eini­gen Kopf-Wand-Kon­tak­ten führt, wel­che die Situa­tion auch nicht bes­ser machen.

Irgend­wann kurz vor 8 Uhr beschließe ich gerä­dert, das Elend zu been­den und wenigs­tens eine gute Tat zu tun, indem ich meine Frau schla­fen lasse, der­weil Bröt­chen und Kram ein­kaufe und damit das geliebte Weib über­ra­sche – wel­ches nach mei­ner Rück­kehr bereits auf dem Sofa sitzt und „Da kann ich ja lange rufen!“ schnauzt. Natür­lich im Spaß.

Weni­ger spa­ßig: Auch den Pre­row-Aus­flug lasse ich ich die­ses Jahr für mich aus­fal­len. Ich habe schon die Heim­reise im Kopf und will nicht ris­kie­ren, dass ich am Wochen­ende end­gül­tig ausfalle.

Für mich wer­den es also wie­der viele Buch­sei­ten, für Frau R. viele Kilo­me­ter, lei­der allein. Immer­hin hal­ten die Schuhe tat­säch­lich durch.

Freitag, 10. März:
Nochmal Ahrenshoop

Ich dope mich nach dem Früh­stück aus­geh­reif, denn zumin­dest einen Urlaubs­pro­gramm­punkt möchte ich nicht ver­pas­sen: das Abend­essen im Strand­läu­fer. Dan­kens­wer­ter­weise kann ich mitt­ler­weile wie­der ver­nünf­tig kauen, die Geschmacks­ner­ven sind wider Erwar­ten auch noch gut dabei, und das biss­chen Geschniefe und Gerö­chel bekomme ich mit che­mi­scher Unter­stüt­zung bestimmt in den Griff.

Wir kau­fen flink im Hof­la­den neben der Robbe – einem Laden, der so tief unter dem Radar fliegt, dass man ihn z. B. auf Google Maps nicht fin­det, – Sand­dorn­pro­dukte ein, stö­bern in der aktu­el­len Mari­tim­kol­lek­tion der Gold­schmiede Kup­fer, die seit die­sem Jahr gar nicht mehr die Gold­schmiede Kup­fer ist, sam­meln die Bäcke­rei­pro­dukte fürs Wochen­ende zusam­men, machen noch­mal einen kur­zen Spa­zier­gang am Hohen Ufer nach Wus­trow und sind spä­ter am Abend dann wie­der ein­mal kuli­na­risch begeis­tert, wäh­rend es an den Tischen um uns herum hus­tet, niest, röchelt und krächtzt – mir geht es dank Nasen­spray und Trop­fen und Pas­til­len bes­tens, zumin­dest für ein paar Stunden.

Samstag, 11. März:
Abreise

Die letzte Nacht unterm Dach, immer­hin bekomme ich ein paar Stun­den Schlaf. Mein Kopf hat die engen Gren­zen des Rau­mes lang­sam verinnerlicht.

Sich gut füh­len geht immer noch ganz anders, aber ich bin rei­se­taug­lich, belade pünkt­lich das Auto, und kurz vor 10 Uhr flie­gen wir heim.

Ankunft ist vor 14.30 Uhr, das Aus­la­den ist ein biss­chen anstren­gend. 16 Uhr stehe ich vor der neuen Tier­pen­sion und darf die Schmidts abho­len, wel­che sich beim ers­ten Auf­ent­halt gut benom­men haben und des­halb auch im Som­mer wie­der einen Platz dort fin­den werden.

Fazit

Das Stück Holz vom West­strand ret­tet die­sen Urlaub irgend­wie, obwohl es ihn viel­leicht auch demo­liert hat. Viel­leicht war ich vor­her schon ange­schla­gen, viel­leicht nicht. Ich hätte die­sen Urlaub drin­gen­der gebraucht als in ande­ren Jah­ren, ich wollte end­lich mal eine Woche am Stück aus­schla­fen … Aber manch­mal ist das Leben eben eine Schach­tel Pra­li­nen, aus der nach dem Öff­nen die Maden rauskriechen.

Ich danke mei­ner Frau für ihre unend­li­che Geduld. Nächs­tes Jahr sammle ich wie­der Schnapp­schüsse. Kein Holz. Keine Rie­sen­steine. Nichts, was nicht in die Jacken­ta­sche passt.

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